Interview: Mein Kind ist anders

Der Titel provoziert. Man könnte doch auch sagen, dass mein Kind gleich wie alle anderen ist. Oder?

Ja genau. Jeder Mensch, jedes Kind ist individuell und einzigartig. Jeder Mensch hat individuelle Fingerabdrücke, die bei keinem anderen Menschen zu finden sind. Dennoch bestehen alle Menschen aus den gleichen physischen Grundkomponenten (Füsse, Arme, Kopf usw.) und sind einander relativ ähnlich.

Von der Geburt bis zum Tode erleben alle Menschen ständig ein grosses Spektrum von Gefühlen. Angst, Schmerz, Hilflosigkeit, Wut, Freude, Eifersucht und Liebe. Das ist bei uns allen gleich.
Aber wie wir unsere Gefühle wahrnehmen, ist wiederum sehr individuell.

Können Sie hier ein Beispiel machen, damit wir uns das besser vorstellen können?

Also gut, schauen wir uns ein extremes Beispiel an.
Angenommen, ich spucke Sie an. Für Sie könnte dies eine Notsituation sein. Sie könnten sich angegriffen und sich in Ihrem Selbstwert verletzt fühlen und wütend auf mich sein. Sie könnten zu der Überzeugung gelangen, Sie werden nicht respektiert, sie seien nicht liebenswert, denn warum hätte ich Sie angegriffen? Sie fühlen sich verletzt, ungeliebt, vielleicht einsam, und Ihr Selbstwertgefühl leidet. Obwohl Ihr Handeln Wut ausdrückt, fühlen Sie sich verletzt – was Ihnen nur entfernt bewusst ist.

Wie würden Sie zeigen, was Sie empfinden?
Was würden Sie sagen, und was würden Sie tun?

Gute Frage. Haben Sie Vorschläge?

Sie haben verschiedene Möglichkeiten. Sie könnten mich ebenfalls anspucken. Sie könnten mich schlagen. Sie könnten losheulen und mich bitten, es nicht mehr zu tun. Sie könnten mir danken. Sie könnten davonlaufen.

Oder Sie könnten Ihre Gefühle ehrlich zum Ausdruck bringen und mir sagen, wie wütend sie sind und könnten mich dann fragen, wie ich dazu kam, Sie anzuspucken.

Das sind allerdings ganz verschiedene Optionen. Wovon hängt es denn ab?

Bei Ihrer Reaktion werden Sie von ihren Regeln (Glaubenssätze, Muster) geleitet. Wenn Ihre Regeln es Ihnen gestatten Fragen zu stellen, können Sie mich fragen. Lassen Ihre Regeln hingegen keine Fragen zu, dann können Sie nur raten und werden möglicherweise zu falschen Schlussfolgerungen kommen.

Das Spucken kann für viele verschiedene Dinge stehen. Hat sie mich angespuckt, weil sie mich nicht mag? Weil sie wütend auf mich war? Weil sie über sich selbst frustriert ist? Weil sie ihre Muskeln nicht unter Kontrolle hat? Oder weil sie meine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte?

Wirklich interessant. Was ist denn Ihr Fazit?

Kinder erleben in ihrem Alltag, zu Hause, auf dem Pausenplatz, in ihrer Freizeit immer wieder Situationen, die sie wütend machen. Wenn Sie gestatten, Wut als ein in bestimmten Situationen natürliches menschliches Gefühl anzusehen, die Wut zu respektieren und zu schätzen, nur dann wird ihr Kind oder sie auch in der Lage sein, die Wut in positive Energie zu wandeln.

Wut bei Kindern zeigt sich oft als Streit und streiten ist positiv für die Entwicklung.

Hier gibt es Hinweise, wie Sie als Eltern einen guten Umgang damit finden. Bei wirklich herausfordernden Fällen empfehle ich jedoch den Gang zum Profi.

Vielen Dank für das Interview.